Pulverfass Südostasien: Vom Tempelstreit zum offenen Krieg
Südostasien blickt auf einen neuen, gefährlichen Krisenherd. An der Grenze zwischen den beiden ASEAN-Mitgliedsstaaten Thailand und Kambodscha ist ein lange schwelender Territorialkonflikt zu einem offenen Krieg eskaliert. Innerhalb der letzten 48 Stunden entwickelte sich die Lage von einem diplomatischen Eklat zu schweren militärischen Auseinandersetzungen, bei denen Raketenwerfer, Artillerie und sogar F-16-Kampfflugzeuge der thailändischen Luftwaffe zum Einsatz kamen.
Auslöser war eine Landminenexplosion, die fünf thailändische Soldaten verletzte, doch die Wurzeln des Konflikts reichen über ein Jahrhundert zurück und werden durch die aktuelle politische Fragilität in beiden Hauptstädten massiv befeuert. Die Folge ist eine schwere humanitäre Krise und ein diplomatischer Kollaps, der die Stabilität der gesamten Region bedroht.
Ein historischer Konflikt als Zündschnur
Das Epizentrum des Streits ist der Tempel Preah Vihear, ein Meisterwerk der Khmer-Architektur aus dem 11. Jahrhundert, das auf einer Klippe im Dangrek-Gebirge thront. Die Ursprünge des Disputs liegen in einer von französischen Kolonialbehörden 1907 gezeichneten Karte, die die Grenze entlang einer Wasserscheide festlegte – eine Grenzziehung, die Thailand (damals Siam) als fehlerhaft und nie formell akzeptiert betrachtet.
Im Jahr 1962 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH), dass die Souveränität über den Tempel selbst bei Kambodscha liegt, eine Entscheidung, die in Thailand bis heute als nationale Wunde empfunden wird. Entscheidend war jedoch, dass das Gericht nicht über das gesamte umliegende, 4,6 Quadratkilometer große Gebiet urteilte, was eine gefährliche Zweideutigkeit hinterließ. Die Spannungen flammten erneut auf, als Kambodscha den Tempel 2008 erfolgreich als UNESCO-Weltkulturerbe registrieren ließ, was 2011 zu schweren bewaffneten Auseinandersetzungen führte. Eine erneute Klarstellung des IGH im Jahr 2013, die auch den Felsvorsprung des Tempels Kambodscha zusprach, konnte den tief verwurzelten Nationalismus auf beiden Seiten nicht besänftigen.
Innenpolitische Instabilität als Brandbeschleuniger
Der aktuelle Gewaltausbruch ist untrennbar mit der innenpolitischen Dynamik in beiden Ländern verbunden. In Thailand befindet sich die Regierung in einer prekären Lage. Premierministerin Paetongtarn Shinawatra wurde am 1. Juli vom Verfassungsgericht ihres Amtes enthoben, um eine Ethikuntersuchung einzuleiten. Auslöser war ein durchgesickertes Telefongespräch mit dem ehemaligen kambodschanischen Führer Hun Sen, in dem sie als zu nachgiebig gegenüber Kambodscha und als untergrabend für die thailändische Militärführung wahrgenommen wurde. Diese Suspendierung schuf ein Machtvakuum und setzte die amtierende Regierung und das Militär unter immensen Druck, eine kompromisslose Haltung einzunehmen, um nicht als schwach zu gelten.
In Kambodscha dient der Konflikt der neuen Regierung von Premierminister Hun Manet, der die Macht von seinem Vater übernommen hat, als Instrument zur Machtkonsolidierung. Das Schüren nationalistischer Gefühle gegen den historischen Rivalen Thailand ist eine bewährte Taktik, um die öffentliche Unterstützung zu mobilisieren und von innenpolitischen Problemen abzulenken. Der ehemalige Premierminister Hun Sen warf dem ebenfalls ehemaligen thailändischen Premier Thaksin Shinawatra (Paetongtarns Vater) persönlich vor, die Aggression zu schüren, was die tiefen persönlichen und dynastischen Verflechtungen der Krise unterstreicht.
Die Eskalation: Vom diplomatischen Bruch zum offenen Krieg
Die Situation eskalierte rasant, nachdem am Mittwoch, dem 23. Juli, fünf thailändische Soldaten durch eine Landmine verletzt wurden. Thailand beschuldigte Kambodscha umgehend, neue Antipersonenminen gelegt zu haben, was Phnom Penh zurückwies. Innerhalb von Stunden wiesen beide Länder die Botschafter des jeweils anderen aus und stuften die diplomatischen Beziehungen auf die „niedrigste Stufe“ herab.
Am frühen Donnerstagmorgen, dem 24. Juli, brachen an mindestens sechs Stellen entlang der Grenze schwere Kämpfe aus. Kambodschanische Streitkräfte setzten Berichten zufolge lastwagengestützte BM-21 „Grad“ Mehrfachraketenwerfer ein und feuerten auf thailändisches Territorium. Dabei wurden laut thailändischen Angaben gezielt zivile Einrichtungen wie eine Tankstelle und mindestens zwei Krankenhäuser getroffen, was zur Evakuierung von Hunderten von Patienten führte. Thailand reagierte massiv und setzte F-16-Kampfflugzeuge für Luftangriffe auf kambodschanische Militärstellungen ein.
Die menschlichen Kosten sind verheerend. Nach Angaben des thailändischen Gesundheitsministeriums wurden mindestens 14 Menschen auf thailändischer Seite getötet, darunter 13 Zivilisten, und 46 weitere verletzt. Kambodscha hat bisher keine offiziellen Opferzahlen veröffentlicht. Schätzungen zufolge wurden auf beiden Seiten der Grenze über 100.000 Zivilisten aus ihren Dörfern evakuiert und in Notunterkünften untergebracht.
Fazit: ASEAN am Scheideweg
Der Konflikt zwischen Thailand und Kambodscha ist ein gefährliches Zusammenspiel aus historischer Feindseligkeit, die für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert wird. Die schnelle und gewaltsame Eskalation offenbart ein kritisches Versagen regionaler Deeskalationsmechanismen. Die internationale Gemeinschaft hat mit Besorgnis reagiert. Die USA und China haben zur Zurückhaltung aufgerufen, und der UN-Sicherheitsrat hat auf Antrag Kambodschas eine Dringlichkeitssitzung abgehalten.
Die größte Verantwortung und zugleich die größte Herausforderung liegt jedoch bei der ASEAN. Als amtierender Vorsitzender hat der malaysische Premierminister Anwar Ibrahim eine proaktive Rolle übernommen und mit den Führern beider Länder telefoniert, um auf einen sofortigen Waffenstillstand zu drängen. Der Ausgang dieser Krise wird nicht nur über Frieden oder Krieg an der Grenze entscheiden, sondern auch ein Lackmustest für die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der ASEAN sein, deren zentrales Versprechen die Wahrung des Friedens zwischen ihren Mitgliedern ist.